Dr. Jürgen Janssen, der das Sekretariat des Bündnisses für Nachhaltige Textilien leitet sieht bei einem vorsichtigen Blick in die Zukunft Unternehmen im Vorteil, die ihre unternehmerische Verantwortung ernst nehmen. Das hat er uns im Gespräch mit Heike Hess (Leitung IVN Geschäftsstelle) erklärt.
IVN Geschäftsstelle: Die Textil-Landschaft in Deutschland ist jetzt seit knapp 3 Monaten im Ausnahmezustand. Wie ist die Stimmung unter Ihren Mitgliedsunternehmen?
Dr. Jürgen Janssen: Die Stimmung unter unseren Mitgliedsunternehmen ist sehr unterschiedlich. Das liegt vor allem an den verschiedenen Geschäftsmodellen. Unternehmen im Einzelhandel mit gemischten Food/Non-Food Sortimenten mussten überhaupt nicht schließen, Unternehmen mit starker Online-Präsenz konnten und können zumindest einen Teil der Umsatzverluste aus dem stationären Handel ausgleichen und Firmen mit größerer Flexibilität in Produktion und Vermarktung haben zum Teil auf Schutzkleidung umgestellt. Gleichzeitig haben viele andere Unternehmen im Textilbündnis mit dramatischen Umsatzverlusten zu kämpfen – mit den bekannten Konsequenzen für Mitarbeitende und Finanzen sowie die Geschäftspartner in der Lieferkette. Vereinfacht kann man sagen, dass die Auswirkungen der Krise von drei Faktoren abhängig sind: vom Geschäftsmodell, von der Flexibilität des Unternehmens und von der finanziellen Ausgangslage.
Wenn wir vorsichtig nach vorne schauen, dann könnte sich bald schon zeigen, dass solche Unternehmen besser durch die Krise kommen, die neben der notwendigen Digitalisierung und Positionierung in ihrem Markt in stabile Geschäftsbeziehungen, in Nachhaltigkeit und in Verantwortung für die Geschäftspartner und Arbeitenden in der Lieferkette investiert haben.
IVN Geschäftsstelle: Als Käufermarkt hat die deutsche Textilbranche momentan große Lieferkettenprobleme einerseits wegen der erschwerten Beschaffung aber auch die Sorge um die Lieferanten und ihre Mitarbeiter wiegt schwer. Wie prekär ist die Lage Ihrer Meinung nach?
Dr. Jürgen Janssen: Die Lage in vielen Produktionsländern ist teilweise absolut dramatisch. Aktuelle Informationen dazu stellen wir auf der Website des Textilbündnisses laufend zusammen. Der gleichzeitige und weltweite Angebots- und Nachfrageschock, verbunden mit Gesundheitsrisiken und Fabrik- und Geschäftsschließungen betrifft Unternehmen und Mitarbeitende in allen Ländern. Die Folgen in den Produktionsländern sind aber vielfach deutlich gravierender als in Deutschland und Europa: Die Liquidität der Unternehmen ist stark angespannt, was nicht nur die Zahlung laufender Kosten wie den Löhnen, sondern auch die Fähigkeit zur Wiederaufnahme der Produktion nach Ende der Produktionsunterbrechungen gefährdet. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeiter und Arbeiterinnen: Sie fürchten um die ihnen zustehenden Zahlungen und einen Jobverlust sowie um ihre Gesundheit am Arbeitsplatz, und dies alles viel zu häufig ohne nennenswerte soziale Sicherungssysteme. Welche Möglichkeiten Handels- und Markenunternehmen hier haben und was mit Blick auf ihre unternehmerischen Sorgfaltspflichten erwartet werden kann, darüber haben wir im Bündnis intensiv diskutiert und entsprechende Leitsätze auf der Website veröffentlicht.
IVN Geschäftsstelle: Gibt es bereits Maßnahmen bzw. Planungen, um die Menschen und Unternehmen in den Produktionsländern zu unterstützen?
Dr. Jürgen Janssen: Eine Unterstützung von Unternehmen und insbesondere von Arbeiterinnen und Arbeitern in Produktionsländern ist aus meiner Sicht zentral. Eine Gruppe von Multi-Stakeholder-Initiativen, zu der auch das Textilbündnis gehört, hat hierzu schon im April einen „Joint Call: Responding responsibly to the COVID-19 crisis“ veröffentlicht und den ILO-Aufruf „COVID-19: Action in the Global Garment Industry“ unterstützt. Zentrale Punkte sind (a) kurzfristige Maßnahmen zur Einkommensunterstützung und Liquiditätssicherung, (b) die Entwicklung einer Perspektive für die Textil- und Bekleidungsbranche nach COVID-19 und © die Überzeugung, dass die Herausforderungen nur gemeinsam von Regierungen, Marken‑, Handels- und Produktionsunternehmen, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft gelöst werden können. Nur so können wir die Not der Menschen lindern, teilweise fragile Gesellschaften stabilisieren und Geschäftspartner durch die Krise bringen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist dabei international ein wichtiger Treiber und setzt bereits entsprechende Kooperationsmaßnahmen in Produktionsländern um.
IVN Geschäftsstelle: Würden Sie sagen, dass sich die Kommunikation und der Umgang zwischen den Akteursgruppen im Textilbündnis durch Corona verändert hat?
Dr. Jürgen Janssen: Grundsätzlich ist die Zusammenarbeit der Akteursgruppen im Textilbündnis konstruktiv und vertrauensvoll. So hat etwa der Steuerungskreis zu Beginn der Krise im Konsens beschlossen, das Arbeitsprogramm des Bündnisses anzupassen und unter anderem die Berichterstattung im Bündnis (Review-Prozess) auf 2021 zu verschieben. Das heißt natürlich nicht, dass einzelne Diskussionspunkte nicht kontroverser gesehen werden als andere, hier sei zum Beispiel das Thema Lieferkettentransparenz genannt. Allerdings muss man auch sehen, dass die große Gruppe der Unternehmensmitglieder keinesfalls homogen ist. Hier haben kleinere, nachhaltige Unternehmen häufig andere Vorstellungen als größere Akteure. Im Zuge der COVID-19-Krise zeigen sich aber einige Aspekte, die meiner Meinung nach über die Krise hinaus wirken werden: So ist klar, dass der Sorgfaltspflichtenansatz die Grundlage für Unternehmensverantwortung ist. Auch werden die Nachhaltigkeitsthemen, mit denen sich das Bündnis befasst, durch die Krise nicht obsolet, sondern weiter an Bedeutung gewinnen. Ebenso wird deutlich, dass die Gestaltung der Beziehungen in den Lieferketten und die Geschäftspraktiken die zentralen Ansatzpunkte für Veränderungen sind. Und nicht zuletzt zeigt sich, dass trotz teilweise gegenläufiger politischer Entwicklungen Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren auch länderübergreifend sinnvoll und notwendig sind, wenn große Herausforderungen angegangen werden müssen. Und dass diese Herausforderungen nach Corona kleiner sein werden als vorher, davon gehe ich aktuell nicht aus.